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by the way
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Bevor ich nach Tallinn gefahren bin, hat Kai
mir geschrieben, dass es für mich vermutlich von wenig
Nutzen sei, sie zu treffen, denn sie habe kein Auto kein
Sommerhaus und sei somit sowieso eine ganz untypische
Estin.
Am ersten Abend gehen wir aus. Unser Weg durchquert ein funkelndes
Einkaufszentrum. Es beginnt zu regnen, und Kai kauft am Kiosk
zwei Plastiktüten mit Kapuze, in blau für sie und
in grün für mich. Unser Weg führt durch die
Fußgängerzone und über den Rathausplatz. Das
Wasser fällt wie aus einer leistungsstarken Dusche, reißende
Flüsse strömen um unsere Waden, und die weißen
Ränder meiner roten Schuhe verfärben sich rosa.
Wenn es nicht regnet, verkaufen hier Mädchen im Mittelalterkittel
Softeis. Die jungen Männer zeigen Waden und zierliche
Knie in ihren Strumpfhosen und Schnabelschuhen.
Kai und ich amüsieren uns prächtig und verursachen
eine Überschwemmung in dem Kellerlokal, das Kai ausgesucht
hat.
Ich erzähle ihr, dass ich in Russland im allgemeinen
für eine aus den baltischen Staaten gehalten werde. Haben
sie dich nicht gefragt, warum wir sie nicht lieben?,
fragt Kai. Ihr sei es in Moskau ständig so ergangen.
Einmal seien am Kreml die Straßen gesperrt gewesen.
Es war kurz vor dem Irakkrieg und ein Staatsbesuch wurde erwartet.
Die Wachen hätten niemandem Auskunft gegeben über
den Grund der Sperrung. Alte Frauen hätten gemutmaßt,
ein amerikanischer Angriff stehe bevor. Als sie diese Stimmung
von verweigerter Information, Gerüchten und Bedrohung
wiedererkannt habe, die sie schon fast vergessen gehabt habe,
sei sie schnell wieder nach Tallinn gefahren, sagt Kai.
Außerdem sagt Kai, dass ihr in Deutschland nie irgendetwas
als exotisch auffalle. Sogar Finnland sei exotischer! Mir
geht es mit Tallinn genauso.
Die Altstadt Tallinns ist den Touristen vorbehalten.
Junge finnische Gäste kommen gern. Gewaltige Fähren
und Cruiser liegen im Hafen. Wenn man ein Paar sehe
mit einem schönen Mann und einer durchschnittlich hübschen
Frau, also einer Frau, die lange nicht so hübsch ist
wie ihr Mann, sagt Kai, dann könne man sich sicher seien,
dass das Schweden seien oder was auch immer, aber bestimmt
keine Esten! In Estland würde großen Wert darauf
gelegt, eine schöne Frau vorzeigen zu können. Die
Finnen hätten estnische Frauen immer für Prostituierte
gehalten, sagt sie auch.
Einmal sitzt ein altes amerikanisches Paar am Nachbartisch
in einem Lokal, gerade umgezogen nach Florida, wie wir erfahren,
und die Frau zündet sich eine Zigarette an. Wir fragen
sie, welche Marke sie gekauft habe. Sie sagt, sie habe ihre
eigenen mitgebracht, da man ihr gesagt habe, dass die Zigaretten
hier teuer seien.
Der zweite Spaziergang führt Kai und mich
zum Bierfest. Wir gehen durch eine der besten Gegenden der
Stadt. Wo keine alten Holzhäuser stehen, haben Architekten
moderne Holzhäuser gebaut. Im Schloßpark von Kadriorg
versucht ein moldawisches Folkloreduo, die Großeltern
in Stimmung zu bringen, die ihre Enkel spazieren führen.
Auf dem Bierfest gibt es eine Disziplin, bei der ein Freiwilliger
mit verbundenen Augen eine Bierkiste hochheben und schätzen
muss, wie viele Flaschen sie enthält. Unser Kandidat
gewinnt. Er bekommt eine Flasche Bier, was wir knickerig finden.
Wir essen Schaschlik.
Man kann sich in einem Autositz an Gummibändern in die
Luft schleudern lassen. Den jungen Männern scheint es
gut zu gefallen. Diese Bungee-Jumping-Form habe es auch beim
Sängerfest schon gegeben, sagt Kais Sohn. Das Sängerfest
hat vor einer Woche stattgefunden, am selben Platz wie das
Bierfest, oder richtiger: Erstaunlicherweise darf das Bierfest
auf dem heiligen Gelände des Sängerfestes veranstaltet
werden. Es gibt eine riesige Muschel mit Platz für 30
000 Sänger, und insgesamt Platz für 300 000 Teilnehmer,
das ist fast ein Drittel aller Esten. Sie habe sich in sowjetischer
Zeit immer gewundert, warum das Fest nicht verboten worden
sei. Diese Feste hätten etwas von Widerstand an sich
gehabt. Sie habe gedacht, dass jetzt vielleicht keiner mehr
hinginge, weil es doch nicht mehr nötig sei, aber es
sei voll gewesen wie immer. Gegen Ende des Festes würden
alle gemeinsam ein bestimmtes Lied singen und weinen. So sei
das. Sie würden sich wenig anfassen, sie Esten, all das
umarmen und küssen, das sei bei ihnen nicht üblich.
Wenn sie ein Gefühl von Gemeinschaft haben wollten, dann
würden sie singen.
Auf unserem dritten Spaziergang gehen wir durch
einen Park, der früher ein Friedhof für deutschbaltische
Adlige war, und ich lerne, dass die vielen estnischen Namen
mit deutschem Klang daher rühren, dass die deutschbaltischen
Adligen in früheren Zeiten ihren estnischen Leibeigenen
die Namen gaben.
Wir passieren ein ehemaliges Gefängnis mit Blick aufs
Meer und einen Hangar für Wasserflugzeuge. Als das sowjetische
Militär noch die Küste abgeriegelt hat, habe man
an vielen Stellen der Stadt gar nicht gewußt, wie nah
sie am Meer lagen, sagt Kai.
Auf einer Freifläche voller Lupinen gibt es einen Angler,
einen einsamen Mann mit einem Bier, zwei Kinder auf Rädern
und ein Kind in einem Auto, das Autofahren übt. Gruppen
von Paaren in Badebekleidung liegen im hohen Gras und die
Kreuzfahrtschiffe blenden weiß im Hintergrund.
Am letzten Abend landen wir im ehemaligen Klub
der Künstlerunion. Früher hatten nur Künstler
Zutritt. Man konnte seinen Geburtstag im Klub feiern, und
Kai erinnert sich, wie sie als Kind auf Servietten gezeichnet
hat, während ihr Vater und seine Kollegen armenischen
Kognac bestellten. Anders erzählt, was Letten, Litauer
und Esten unterscheidet: Die Litauer sagen immer, sie
würden ja gern, aber das Geld sei das Problem. Die Letten
sagen, sie würden ja gern, aber die Russen seien das
Problem. Und wir sagen, wir würden ja gern, aber wir
sind zu wenige.
Als ich wieder zu hause war, habe ich Post
von Kai bekommen. By the way, hat sie geschrieben,
kennst du diesen Witz: Ein Russe, ein Amerikaner und
ein Este treffen einen Elefanten. Was für ein interessantes
Tier! sagt der Russe. Was für ein großes Tier!
sagt der Amerikaner. Interessant, sagt der Este, was denkt
der Elefant wohl über mich?
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Nomme - Kaubamaja (mehr)
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Wasser, Bäume und Selbstmythologisierung
(mehr)
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Zwei Kronen - Kaks Krooni (mehr)
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Wasser,
Bäume und Selbstmythologisierung
Ein Text von
Reet Varblane
Es war einmal ein grünes, grünes,
eigentlich nur grünes und flaches Land. In ihm
gab es einige wenige Städte. Eine war größer
als die anderen, und die Menschen nannten sie Hauptstadt.
Die Menschen waren sehr stolz auf diese Hauptstadt,
und vor allem diejenigen, die in der Hauptstadt lebten.
Sie waren stolz auf ihre mittelalterliche Altstadt und
wollten, dass in ihr alles so bleibe, wie es war. Sie
wollten auch, dass ihre Stadt eine moderne Stadt würde,
eine repräsentative Metropole. Ehrlich gesagt,
das war sie nicht: Sie hatte eine Altstadt, vernachlässigte
Slums, anheimelnde Vororte und mäßig schöne
Gegenden moderner Betonarchitektur. Dennoch, die Menschen
liebten ihre Hauptstadt und ihr Land, aber am meisten
liebsten sie alle Arten von Mythen über sie selbst:
Darüber, wie schön ihre Frauen sind und wir
hart ihre Männer arbeiten. Über die Begabung
und Intelligenz ihrer Kinder und den Charme ihrer Sprache.
Einmal hat es einen Wettbewerb gegeben, in dem Sprachen
nach ihrer Schönheit bewertet wurden. Die estnische
Sprache hat den zweiten Preis gewonnen; nur die italienische
war schöner.
Aber Mythen sind Mythen, und manchmal,
wenn sie sich dessen bewußt werden, werden die
Einwohner des Landes traurig ... und denken sich neue
Mythen über sich selber aus.
Im Politischen versuchten sie, alles
richtig und korrekt zu machen, aber eigentlich waren
sie albern. Sie glaubten niemandem. Wie auch immer,
eine wirklich wertvolle Qualität hatten sie: Sie
waren immer fähig, über sich selbst zu lachen.
Dieses grüne flache Land liegt am
Meer. Wasser, Bäume und
Selbstmythologisierung - das ist Estland.
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Der Dachs
Ihan Toomik ist der erste, der
mir einen Vorschlag für die Darstellung
Estlands in Deutschland macht: Er schlägt
einen Dachs vor.
Estland soll ein Wappentier bekommen. Jedem
Land seien ein Vogel, eine Blume und ein Tier
zugeordnet, sagt Ihan. Estland habe eine Kornblume
und den Star, aber noch kein Tier. Ihan zeigt
mir die Webseite einer Initiative, die für
den Dachs eintritt. Um den Dachs zu propagieren,
haben sie ein Bier nach ihm benannt. Was für
den Dachs spräche sei die Tatsache, dass
er im Gesicht weiße und schwarze Streifen
trägt und also der estnischen Flagge ähnele.
Kai hat für den Biber gestimmt. Er sei
den Esten ähnlicher als der Dachs, in innerer
Art ähnlicher, denn er baue gern. Der Este
als solcher beschäftige sich am liebsten
mit dem Bauen. Er baue sich gern sein Gartenhaus
und habe überhaupt gern seinen eigenen
Raum, den niemand ohne Einladung betreten darf.
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Die Lebensmittelabteilung des Kaubamaja
ist sehr schick. Für mich sieht sie skandinavisch aus,
aber ich muss zugeben, dass ich mich mit dem Skandinavischen
eigentlich gar nicht auskenne.
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Zu meinem Vortrag in Tallinn ist eine größere
Bande netter alter Menschen gekommen. Manche haben mitgesungen,
als ich Weißt du wieviel Sternlein stehen
gespielt habe. Einer von ihnen hat mir erzählt, wie
er früher als Geräteturner nach Leipzig gereist
ist. Zum Abschied hat er meine Hand fest gedrückt.
Ursula Calenberg hat einige Jahrzehnte in Deutschland gewohnt
und ist zurück nach Estland gezogen. Sie gibt mir Fotos
von Häusern in ihrem Geburts- und Wohnort Nomme, einem
Teil von Tallinn, damit ich sehe, wie schön gestrichen
und gepflegt sie sind.
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Zwei Kronen
- Kaks Krooni
Tuuli Stewart hat den Zwei-Kronen-Schein ausgewählt,
um für Estland und die komplizierte estnische Identität
zu stehen. Der Zwei-Kronen-Schein zeigt den Naturwissenschaftler
Karl Ernst von Baer.
Dies ist Tuulis Text:
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(Seit dem 1.1.2011 gehört Estland zur Eurozone, die nationale Währung gibst es nicht mehr.)
Mein Name ist Tuuli. Tuuli meint auf estnisch
Wind. Mein jüngerer Bruder heißt Tormis
- Sturm. Wir haben normale estnische Eltern. Meine
Mutter ist 62 und arbeitet noch ganztägig. Mein Vater
ist 63. Der durchschnittliche estnische Mann lebt 57 Jahre.
Mein Vater ist also eigentlich schon tot.
Die durchschnittliche estnische Familie hat 1,2 Kinder. Wir
sind wie Italiener - sterben ziemlich bald aus. Jedes Jahr
werden in Estland weniger Kinder eingeschult. Nicht mehr genug
Menschen, um ein Land am Laufen zu halten. Ich habe drei Kinder
und mein Bruder hat vier. Ansonsten sind wir normale estnische
Eltern - ich bin eine geschiedene alleinerziehende Mutter
und mein Bruder war nie verheiratet. Werden wir unser Land
und unsere nationale Identität für die Zukunft sichern?
Oder werden unsere Kinder es tun, wenn sie normale estnische
Eltern werden? Wir werden sehen.
Eines der mächtigsten und wichtigsten Symbole für
jedes Land und seine Identität war und ist das eigene
Geld. Besonders wichtig ist es für ein neues Land und
seine Bürger. Wir Esten haben viel Zeit und Mühe
darauf verwandt, unsere eigenen Banknoten zu entwickeln, und
jetzt verwenden wir sie darauf, sie so lange wie möglich
zu behalten. Die Abbildungen auf unseren Banknoten spiegeln
unsere Kultur und erinnern uns daran, was wir sind und woher
wir kommen.
Die größte Konstante in Estland und in der estnischen
Geschichte ist für mich die Verwirrung. Die Verwirrung
darüber, wer wir sind und woher wir kommen. Als ein so
kleines Land, so offen allen Winden dieses kalten Meeres ausgesetzt,
immer erobert und regiert von anderen - 700 Jahre von den
Deutschen, 150 und nochmal 50 von den Russen - haben die meisten
von uns das Verständnis dafür verloren, wenn die
Gefühle und Symbole auch stark sind. Auch wenn unsere
Bevölkerung abnimmt, so haben wir doch den größten
Chor der Welt - in diesem Jahr auf haben auf unserem Song
Festival 21500 Menschen zusammen gesungen. Die Zahl der Sänger
im nationalen Chor wächst. Wir sind stolz auf die Altstadt
von Tallinn. Sie ist schön und einmalig. Aber wir können
nicht vergessen, dass sie weder von noch für Esten gebaut
wurde - die Esten lebten außerhalb der Stadtmauern.
Wir sind stolz auf unsere Trachten, die auch heute getragen
werden - diese schöne Kleidung existiert in vielen regionalen
Varianten und spiegelt wiederum die Einflüsse derer,
die zu verschiedenen Zeiten hier gelebt haben - Russen, Schweden,
Dänen, Deutsche.
Die Zwei-Kronen-Note, die ich in meinem Portemonnaie gefunden
habe, ist ein gutes Beispiel dafür: Karl Ernst von Baer,
der darauf abgebildet ist, war ein großer Mann - ein
Adliger, den es nach Wissen verlangt hat, der niemals aufgehört
hat, Fragen über das Leben zu stellen - und der manche
von ihnen für uns alle beantwortet hat.
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1826 entdeckte von Baer die Eizelle von Säugern
und des Menschen (De ovi mammalium et hominis genesi. Lipsiae,
1827). Er konnte zeigen, dass die Embryonalentwicklung der
Tiere von generellen Formen und Eigenheiten zu differenzierten,
arttypischen Eigenheiten fortschreitet. Diese Entdeckung ist
heute unter dem Begriff Baersche Regel bekannt. Seine Doktorarbeit
handelt von endemisch-estnischen Krankheiten. Baer beschäftigte
sich mit Geografie, Ökologie und Anthropologie. 1837
organisierte er eine Expedition nach Nowaja Semlja. Unter
anderem gab er die Materialien zur Kenntnis des unvergänglichen
Bodeneises in Sibirien heraus.
Tallinns Altstadt aus dem 13. und 14. Jahrhundert kann nicht
als Zeugnis einer estnischen Lebensweise bezeichnet werden,
aber wir sind stolz darauf. Unser Präsidentenpalast und
unser Parlament wurden von Russen gebaut. Wir mögen diese
Symbole und betrachten sie als Teil unserer Kultur und als
Teil von uns.
Karl Ernst von Baer war kein typischer Este.
Wir sind stolz auf ihn. Und wir haben ihn zum nationalen Symbol
erhoben - auf der Banknote Kaks Krooni.
Verwirrt in Fragen der Identität?
Vielleicht. |
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