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Weite und Ordnung
Denis Romanowski ist Künstler und einer meiner
Freunde in Minsk. Er lädt mich zum Abendessen ein. Es gibt
Huhn und Auberginensalat, den seine Großmutter gemacht hat.
Denis und seine Freundin erzählen eine der Geschichten, die
man über den Dienst in der sowjetischen Armee erzählt
habe: In den letzten Tagen der Armeezeit eines Rekruten hat man
mit dem Glücklichen Bahnfahrt nach Hause gespielt. Dazu
wurde das untere Stockbett mit Laken verhängt, ein Fenster
hineingeschnitten und der Soldat hineingesetzt. Einige Kollegen
haben das Bett gerüttelt, und andere sind mit Baumstämmen
in der Hand am Fenster vorbeigelaufen.
Der KGB heißt in Belarus immer noch KGB. Er
bewohnt ein stattliches Gebäude, das sich einfügt in die
große Zahl stattlicher Gebäude im weiten Zentrum von
Minsk. Minsk sei als das Tor nach Moskau gesehen und gebaut worden,
sagt Denis. Der wichtigste Prospekt der Stadt führe geradeaus
bis nach Moskau.
Im System der Aufgabenteilung zwischen den Republiken
der Sowjetunion war Belarus die Endmontage zugefallen - wegen seiner
Lage, seiner guten Straßen und gut ausgebildeten Bevölkerung.
Es gab einen Kühlschrank mit dem Namen Minsk und Traktoren
Belarus in der ganzen Sowjetunion. Was für eine
Verschwendung sagt Denis, wenn er an die Studenten denkt,
die weiterhin ausgebildet werden ohne Aussicht auf einen Arbeitsplatz,
und an all die Wissenschaftler und Ingenieure, deren Fähigkeiten
brach liegen.
Auf dem Platz des Sieges wird jede Bodenplatte einzeiln geschrubbt,
ich schwöre. Minsk sieht sehr ordentlich, sicher und sauber
aus. Im Postamt will ich Bücher nach Deutschland schicken.
Zwei Frauen schneiden Stücke aus Packpapier und wickeln ein,
was die Kunden auf den Tisch legen. Niemand gibt gepackte Pakete
ab. Mein Paket soll mehr kosten, als viele als Monatslohn bekommen.
Als ich zögere, sagt die Frau vom Packtisch mitfühlend
Ich verstehe Sie. Schrecklicher Preis.
In Minsk geht man wenig aus. Man trifft sich bei
Freunden, oder die Freunde kommen in die Küche. Das heißt
wetschernik, Abendchen.
Ich wohne bei Ira. Am Mittwoch geht sie auf Dienstreise, um eine
Schulung zu leiten. Schulungen sind ein wichtiger Arbeitsbereich
vieler NGOs. Geschult wird die Anwendung der Regeln zum Umweltschutz
oder zu demokratischer Entscheidungsfindung. Für den Abend
wird Andrej Barowska mit mir verabredet. Er soll mit mir zu einem
Jazzkonzert in den Klub Graffiti gehen. Bei den Soli des
Bassisten sagt er: Jetzt spielt er sein Leben. Sein ganzes
Leben stellt er dar. Sogar mein Leben ist lustiger als seins.
Andrej ist sehr nett und das Konzert gefällt uns beiden nicht.
Ich bedanke mich für seine Gesellschaft trotz der widrigen
Umstände, und er nennt sie ein Geschenk an das deutsche Volk.
Ein anderer Andrej taucht auf und bringt mich nach hause. Er ist
Psychologe,Therapeut und Heiler und kneift mich in die Backen.
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Ein
Mann namens L. (mehr) |
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Bei Olga und Sergej in Brest
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In Sergejs Fotoalbum gibt es Bilder von seiner
Zeit als Student in Deutschland. Er hat mit dem Stipendium
einer evangelischen Stiftung Althebräisch und Aramäisch
studiert. Auf einem Foto sitzt er mit seinem Freund und einem
Tutor am Kamin des Tutors. Einmal sei der Tutor mit ihnen
die Regale eines Supermarktes abgegangen und habe auf die
Waren gezeigt: Reasonable - not reasonable.
Der Bahnhof von Brest hat eine Warschauer und
eine Moskauer Frontseite. Letztere ist prächtig, der
Westwind kalt und stark, der Himmel groß. Wer mit einem
durchgehenden Zug aus dem Westen kommt, wird hier von den
schmalen auf die breiten Schienen gehoben. Wir anderen, die
wir in Brest bleiben, sehen uns die Festung an. Die Festung
von Brest war das erste Hindernis, das sich der Deutschen
Armee bei ihrem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 entgegenstellte.
90 Tage lang soll sie von einer kleinen Gruppe von Soldaten
und Offizieren gehalten worden sein. Das Denkmal zur Eninnerung
an die Helden von Brest wird mit Hilfe russischer und ukrainischer
Unterstützung renoviert.
Kindergruppen werden über die Plätze
geführt. Die großen Sommerferien haben begonnen
und werden bis zum September dauern.
In Brest wird gebaut und renoviert. Meine Gastgeber haben
eine junge Katze mit zwei verschiedenen Augen. Auf dem Markt
kaufen wir Räucherfisch und Kirschen aus Moldawien. Olga
stammt aus Moldawien. Sie findet Lukaschenko und seine Politik
nicht so schlecht. Dass Weißrussland im Westen so negativ
dargestellt wird, liege daran, dass seine Regierung sich der
vollständigen Bevormundung widersetze. Sie habe in Moldawien
gesehen,
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wie die verfehlte Politik der internationalen
Organisationen dem Land Armut und Schulden gebracht habe.
Im übrigen reise Lukaschenko sehr wohl in den Westen
und würde empfangen, nur offiziell, sei er nicht erwünscht.
Ob ich wüßte, dass jeder Euroschein Leinen aus
Belarus enthält? In einem Geschäft zeigt sie mir
die schöne Qualität des belarussischen Leinen.
Wir gehen auch in das Geschäft von Milawitza,
einer bekannten weißrussischen Unterwäschemarke.
Die Modelle sind an den Wänden aufgehängt. Ein Dutzend
Verkäuferinnen wartet hinter den langen Tresen und legt
die Ware vor.
Sergej ist Priester. Seit er Priester ist,
trägt er einen Bart, keinen langen, aber einen Bart,
der ihm gut zu Gesichte steht. Jeden Morgen um sechs geht
er in seine Kirche. Die Kirche ist gut besucht. Ich stehe
gern stundenlang im Gottesdienst. Ein Frauenchor singt. Den
Priestern würde beigebracht, auf einem Ton zu sprechen,
wie es die orthodoxe Regel bestimme, um die Gedanken der Gläubigen
nicht von der Stimmung des Priesters abhängig zu machen.
Wir sehen uns Fotos an, die Sergej im Schnee vor dem Priesterseminar
zeigen. Er sieht sehr jung aus. Die Seminaristen leben im
Kloster. Wenn sie nicht studieren, arbeiten sie im Garten
oder backen die Brote, die in der Kirche manchen Gläubigen
gegeben werden.
Eine Stelle als orthodoxer Priester bekommt nur, wer verheiratet
ist oder aber Mönch. Olga erzählt, dass eine ihrer
Kolleginnen großen Gefallen an Sergej gefunden habe.
Da soll sie nur ins Priesterseminar fahren, sagt
Sergej, da gibt es noch mehr solche wie mich.
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Ein Mann namens L., wir wissen schon, wen wir meinen
Zwei Fachbereiche der Europäischen Humanistischen
Universität in Minsk haben mich zu Vorträgen eingeladen.
Im Institut für Deutschland- und Europastudien gibt einer
der Dozenten mir die letzte Direktive des Präsidenten
der Republik Belarus.
So heißt es in den Ausführungen über
dringende Maßnahmen für die Organisierung der ideologischen
Arbeit in Hochschulen vom 1. April 2004:
Die Propaganda der Staatssymbolik, des
Präsidenten der Republik Belarus und seiner persönlichen
Rolle in der Lösung der allgemeinstaatlichen Aufgaben
und auch die Propaganda der Idee, dass der Präsident
die Verkörperung der Einheit der Nation ist, die Propaganda
des Präsidenten als Garanten der politischen und wirtschaftlichen
Stabilität des Landes soll verbessert werden. Es
gibt Bestimmungen zur stärkeren Kontrolle von Mitteln
aus ausländischen Fonds und ausländischer Bildungsprogramme.
Das Eindringen Fremder in Universitätsgebäude soll
unterbunden werden. Praktika belorussischer Studenten im Ausland
sollen erschwert und die Teilnahme der Studenten, Dozenten
und Professoren an den patriotischen Aktionen unter der Devise
Heldentaten der Väter erben die Söhne zum
60jährigen Jubiläum der Befreiung von Belarus von
faschistischen Eroberern und dem Sieg des sowjetischen Volkes
im Großen Vaterländischen Krieg soll gesichert
werden.
Nur in der Sowjetunion war man so naiv,
die Worte Ideologie und Propaganda offen zu
benutzen, statt Propaganda und Ideologie stillschweigend zu
vollziehen, sagt jemand. Ira sagt: Wer die Sowjetunion
nicht erlebt hat und das nachholen möchte: Willkommen
in Belarus!
In letzter Zeit werde antieuropäische und antiamerikanische
Propaganda verbreitet, sagt man mir. Es sei wieder sehr in
Mode, unerwünschte Ausländer zu Spionen zu erklären.
Die Räume der Universität würden abgehört.
Eine Studentin schlägt vor, zur Präsentation von
Belarus in Leipzig ein offizielles Portrait des Präsidenten
zu kaufen, wie es im Buchhandel in guter Qualität und
zu geringem Preis verkauft wird. Sie gibt mir eine Diskette
mit anderen Darstellungen des Mannes namens L., wir
wissen schon, wen wir meinen.
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Es war der erste Wunsch der Studentinnen und Studenten,
Belarus nicht über alte Mütterchen mit Kopftüchern
dargestellt zu sehen, sondern durch junge Menschen,
wie man sie auf dem Skarynaprospekt und in seinen Cafés
sieht.
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Am Sonntag
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Am Sonntag sind wir na chutterje gefahren.
Chutter heißen alleinstehende Gehöfte. Dieses Gehöft
wurde von einer unabhängigen Jugendorganisation gekauft,
für die Ira arbeitet.
Bei Wolodja holen wir Lena ab. Wolodja Weter
empfängt uns mit gastgeberischer Grandezza in seinem
abgeschabten grünen Frotteebademantel. Er ist charmant
und kocht uns türkischen Kaffee. Wir essen seinen Käse,
Tanja und Ira durchsuchen seine Bücher und dann hauen
wir ab. Wir heizen mit offenen Fenstern und 140 über
die Landstraßen, durch die Wälder, an blauen Zäunen
entlang und hören Aquarium und DDT. Manchmal
weist Lena mich auf besonders schöne Stellen im Text
hin, etwa die, in der es heißt: Wenn wir lernen
wollen, schön zu leben, müssen wir lernen, schön
zu sterben. An einem See machen wir halt. Tanja beschäftigt
sich mit japanischer Teezeremonie und kocht uns grünen
Tee in ihrem schönen Geschirr. Es regnet und wir gucken
auf den See.
Das Kinderferienlager liegt im tiefen Wald,
hinter schlammigen Wegen und im strömenden Regen. Es
riecht nach Holzfeuer und nassen Jacken. In einem dunklen
See zwischen Birken gehen wir baden. Zwischen den Bäumen
hängen die Wolken. Lutsche ni bewajet, besseres
gibt es nicht, nennen wir das. Die Mücken sind ein Desaster.
Wir treffen Igor . Er trägt eine Tarnuniform und einen
Umhang und leitet ein Kinderferienlager mit Soldatenspielen.
Er spricht deutsch mit mir, das er sich seit zwei Jahren selber
beibringt, wie er sagt.
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Es gibt Kohlsuppe. Ein Mädchen hat ein
Gedicht geschrieben, zu dem jemand eine Melodie auf der Gitarre
spielt. Wir lagern auf Betten und Decken im Holzhaus. Die
große Zeit des Stepanitsch hat begonnen.
Stepanitsch ruft einzelne in die Mitte, schaltet den CD-Spieler
an oder läßt Gitarre spielen, und der in der Mitte
beginnt sich zu winden und zu tanzen. Nicht zu tanzen,
sagt Stepanitsch, sich zu bewegen, sich auszudrücken
und so die Zukunft zu bauen. Der Junge neben mir ist
13. Er sagt mir belarussische Sätze, weil ich die Sprache
noch nicht gehört habe. Er lernt sie in der Schule. Er
solle mir sagen, warum er hier im Ferienlager sei, sagt Stepanitsch,
und nicht im bequemen Ferienlager auf der Krim. Er solle zu
mir vom Kollektiv sprechen. Der befreiende Ausdruckstanz dauert
bis spät in die Nacht.
Es ist halb drei, als wir den Weg zurück
durch die Wälder nehmen. Manchmal halten wir an und Ira
schläft für zehn Minuten. Der Himmel leuchtet weiß.
Um halb sechs kaufen wir im Minsker McDonalds-Drive-In Kaffee.
Festlich gekleidete junge Menschen tun das gleiche.
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